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Telegram statt Tagesschau?

Nahbare Prominente statt Sprecher*innen im Anzug. Private Bilder und kryptische Links statt neutraler Präsentation recherchierter Fakten. Was macht Telegram-Kanäle und -Gruppen als Informationsquellen so attraktiv?

von Amelie Bayer und Jelena Scheider


Christian Wiediger via Unsplash https://unsplash.com/photos/GWkioAj5aB4
Auf sozialen Medien informierten sich im letzten Jahr 37% aller Deutschen über aktuelle Nachrichten, unter Jugendlichen waren es sogar über 50% (Hölig & Hasebrink, 2020). Neben den herkömmlichen sozialen Plattformen Twitter, Facebook und Co. nutzen außerdem immer mehr Deutsche den Messenger-Dienst Telegram (Metzger, 2021). Dieser wirkt auf den ersten Blick wie die blaue Version von WhatsApp. Auf Telegram können sich jedoch bis zu 200.000 Menschen in Gruppen zusammenfinden und austauschen. Das Medium bietet darüber hinaus auch Einzelpersonen die Möglichkeit, als Betreiber*innen großer Kanäle ihren Abonnent*innen einseitig Informationen zufließen zu lassen. Das und die Tatsache, dass es in Telegram keine Moderation und Meldemöglichkeiten gibt, führt dazu, dass gerade Personen, die Hass, Lügen und verfassungsfeindliche Inhalte verbreiten, Telegram als Medium für sich entdecken (Ebitsch, Gardner, Munzinger, Schnell, & Schories, 2020).

Im letzten Jahr gründeten sich tausende örtliche Telegram-Gruppen mit dem anfänglichen Ziel, Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Politik zu organisieren. Mittlerweile zeigen Datenanalysen jedoch, dass die Hälfte der selbsternannten “Corona-Rebell*innen” inzwischen Gruppen beigetreten sind, in denen Verschwörungserzählungen ausgetauscht werden.

Außerdem verbreiten, mit Ausnahme des Corona – Infokanals des Bundesministeriums für Gesundheit, alle Betreiber*innen der größten deutschen Telegram-Kanäle Verschwörungserzählungen (Metzger, 2021). Unter diesen befinden sich beispielsweise Schlagerstar Michael Wendler, Kochbuchautor Attila Hildmann, Sänger Xavier Naidoo oder die ehemalige Tagesschausprecherin Eva Herman. Letzterer folgten in ihrem Telegram-Kanal Ende 2020 bereits über 150.000 Abonnent*innen, noch vor einem Jahr waren es nur knapp 24.000 (Metzger, 2021).

Doch wie kann es Persönlichkeiten wie Eva Hermann gelingen, ihre Abonnent*innen von ihren Inhalten zu überzeugen? Welche besonderen Charakteristika des Mediums Telegram könnten die Überzeugungskraft ihrer Nachrichten erhöhen?

„Ich kenne dich, darum glaube ich dir.“

Ein entscheidender Aspekt ist, dass oft berühmte Personen Telegram-Kanäle betreiben: Auch wenn Eva Hermann und Attila Hildmann keine Freund*innen oder Nachbar*innen sind, sondern Menschen, denen die Abonnent*innen vermutlich nie persönlich begegnen werden, sind sie doch keine Fremden. Trotz der nicht vorhandenen persönlichen Begegnung können Abonnent*innen zu den Prominenten auf Telegram eine ähnlich intime Beziehung aufbauen wie zu ihren Freund*innen. In der Medienpsychologie wird dieses Phänomen als Parasoziale Beziehung bezeichnet (Giles, 2002).

Mitteilung einer anonymen Kanal-Betreibenden an ihre Abonnent*innen (Anonyme Userin via Telegram https://telegram.org/ abgerufen am 25.01.2021)
Schon vor über 20 Jahren konnte man feststellen, dass Fernsehzuschauer*innen oft den Eindruck haben, die Talkshow-Moderator*innen oder ihre liebsten Serienstars wirklich zu kennen (Giles, 2002). Ähnlich wie bei einer gewöhnlichen Beziehung oder Freundschaft können die Zuschauenden auch einen parasozialen Break-Up erleben, wenn diese Beziehung durch das Ende ihrer Lieblingsserie oder einen Skandal abrupt beendet wird (Jarzyna, 2020). Unter einem parasozialen Break-Up versteht die Medienpsychologie, dass das Publikum sich wegen der Trennung von einer Medienperson zum Beispiel traurig oder einsam fühlt (Cohen, 2003). Darüber hinaus kann das Erlebnis einer vermeintlich intimen Beziehung dazu führen, dass man den Aussagen der Medienpersonen mehr vertraut (Giles, 2002). Ähnlich wie man auf den guten Ratschlag einer Freundin beim Autokauf hört, beherzigten in einer Studie von Rasmussen (2018) die Teilnehmenden auch die „persönlichen“ Kaufempfehlungen von YouTube-Berühmtheiten, sogenannten Influencer*innen.

Doch nicht nur Produkte können so leichter verkauft werden. Auch politische Meinungen und Einstellungen können durch wahrgenommene Intimität beeinflusst werden (Jarzyna, 2020). Eben dieser Effekt könnte auch auf Telegram wirken. Durch den engen Kontakt, die Preisgabe von Intimitäten und die verstärkte Möglichkeit, miteinander zu interagieren, kann dort das Gefühl der Pseudobeziehung sogar noch stärker sein (Giles, 2002; Jarzyna, 2020). Attila Hildmann fragt in seinem Telegram-Kanal beispielsweise seine „Kameraden“ mittels Umfragen um ihre Meinung, wodurch seine Abonnent*innen einen direkten Austausch mit dem Kochbuchautor erleben können. Auch Ex-Tagesschausprecherin Eva Herman lernen Abonnent*innen ihres Kanals “persönlich“ kennen, denn sie teilt regelmäßig Bilder von Abendspaziergängen oder Leser*innenbriefe. Wenn sie dazwischen ihre Wut auf die deutsche Verfassung ausdrückt und diesbezüglich ihre Ansichten äußert, liest sich das in der Messenger-Umgebung fast so wie eine Nachricht aus dem Familienchat daneben. 

Eine Gruppe - eine Meinung

Auf Telegram werden jedoch nicht nur Kanäle immer beliebter, sondern auch Gruppen. Während in Kanälen nur eine Person Nachrichten an die Abonnent*innen verschickt, können sich in Gruppen alle Mitglieder austauschen. Solche „virtuellen Stammtische“, aber auch die Familie, das Arbeitsumfeld, die Partei, der Verein und Gruppen im Allgemeinen haben einen großen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und Entscheidungen. So auch als 1961 der damalige amerikanische Präsident Kennedy gemeinsam mit seinen Beratern entschied, die kubanische „Schweinebucht” einzunehmen. Die Mission scheiterte und war sowohl ein militärisches als auch ein politisches Debakel. Selbst der Präsident fragte sich danach, wie er mit seiner Expertengruppe solch eine fatale Entscheidung treffen konnte. Sozialpsycholog*innen beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema „Kommunikation und Entscheidungen in Gruppen“ (Nemeth et al., 2004). Sie erkannten, dass vor allem in Gruppen mit ähnlichen Mitgliedern und einer starken Führungsperson alternative Meinungen weniger geäußert und beachtet werden. Woran liegt das? Zum einen können die Gruppenmitglieder Angst haben, zu widersprechen, zum anderen können sie sich unbewusst an der Mehrheitsmeinung orientieren und ihre Einstellungen daran anpassen. Indem nur solche Argumente vorgetragen werden, die der Gruppenmeinung entsprechen, zensiert sich die Gruppe selbst und kann so zu fatalen Fehleinschätzungen gelangen (Nemeth et al., 2004).

Wie sich einzelne Personen durch eine Mehrheit überzeugen lassen, die ihnen vermeintlich ähnlich ist, konnte auch eine Forschungsgruppe um den Bielefelder Sozialpsychologen Bohner zeigen (Bohner, Dykema-Engblade, Tindale, & Meisenhelder, 2008). Dabei bewerteten Studierende die Argumente einer Gruppe anderer Studierender bezüglich eines Tunnelbaus in Rotterdam. Es zeigte sich: Die Studierenden ließen sich ungeachtet der Argumente von der Meinung der Mehrheit besonders überzeugen, wenn die Forscher*innen die Ähnlichkeit zu den anderen Studierenden besonders betonten.

Ein solches Gruppendenken zeigt sich aber nicht nur bei der amerikanischen Regierung und in studentischen Gruppen, sondern laut einer aktuellen Veröffentlichung auch unter den “Corona-Rebell*innen” (Forsyth, 2020). Eine ähnliche Einstellung zu haben und durch ein gemeinsames Ziel wie dem Protest verbunden zu sein kann dazu führen, dass diese sich stark mit der Gruppe identifizieren. Die soziale Isolation wiederum verringert die Konfrontation mit Andersdenkenden und kann so eine extreme Gruppenmeinung verstärken (Forsyth, 2020).

Solche Prozesse könnte man demnach auch auf Telegram vermuten. Auch in den dortigen Verschwörungsgruppen schwimmt wahrscheinlich kaum ein Fisch gegen den Meinungsstrom. Zum einen können die Mitglieder den Druck verspüren, nur zu der Gruppenmeinung passende Aussagen mitzuteilen. Zum anderen sind die Nachrichten der anderen auch eine Informationsquelle für die eigene Meinung. Diese beiden Prozesse können schließlich dazu führen, dass keine alternativen Erklärungen geäußert werden, den Aussagen nicht widersprochen wird und sich die Gruppenmitglieder in ihrer Meinung gegenseitig verstärken.

Doch wieso nehmen die Gruppenmitglieder keine „Mainstream“ Nachrichten mehr auf? Und welche Rolle spielt die Auswahl der Telegram-Gruppen?

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Sinn spielt auch bei Radikalisierungsprozessen im Netz eine Rolle. Mehr dazu findest du in dem Artikel "Von Facebook in den Dschihad - Wie soziale Medien Extremismus befeuern" von Nils Weinlein.


Auf der Suche nach Bestätigung

Würdest Du dich zu einer Gruppe von Menschen gesellen, von denen Du weißt, dass sie anderer Meinung sind? Spontan denkst Du dir vielleicht „Ja, warum denn auch nicht“. Unbewusst suchen sich die meisten Menschen ihre Freund*innengruppen, sowie ihre Zeitung, Fernsehsender und andere Informationsquellen jedoch so aus, dass sie zu der eigenen Einstellung und Meinung passen. Dieses Phänomen nennt sich selektive Wahrnehmung (engl.: selective exposure) (Stroud, 2018). Eine politisch konservative Person wählt also für die abendlichen Nachrichten eher einen konservativen Sender aus als einen liberalen, da dessen Berichterstattung weniger den eigenen Ansichten entsprechen könnte (Stroud, 2018).

Damit verknüpft ist ein weiterer Effekt: Der Bestätigungsfehler (engl.: confirmation bias). Sobald man sich eine Meinung gebildet hat, sucht man im Folgenden vor allem nach Informationen, die diese bestätigen. Alternativ interpretiert man notfalls Informationen so um, dass sie die eigene Meinung stärken (Nickerson, 1998). Westerwick und Kolleg*innen (2017) untersuchten den Bestätigungsfehler in einem Experiment. Dafür präsentierten sie den Teilnehmenden Nachrichten mit unterschiedlichen politischen Standpunkten. Dabei bevorzugten die Befragten jeweils die Inhalte, welche zu ihren politischen Einstellungen passten.

Im Sinne der selektiven Wahrnehmung ist Telegram eine attraktive Informationsquelle, da dort die eigene Meinung durch passende Informationen gestützt und bestätigt werden kann. So treten vermutlich Menschen, welche offen für Verschwörungserzählungen sind, eher Gruppen von QAnon und Co. bei und abonnieren spezifisch Corona-verleugnende Kanäle. Dazu ist es meist ein geschlossener Kreis an Informationen, welcher durch Verschwörungsgruppen und Kanäle fließt. Fast 40% aller geteilten Nachrichten in den Verschwörungsplätzen Telegrams sind keine neuen Videos, Posts oder Bilder, sondern stammen aus anderen Kanälen (Guhl & Gerster, 2020). So lässt sich die eigene Meinung einfacher festigen.

Andere Medien werden hingegen ausgeblendet (Mortimer, 2017). Entdecken Verschwörungstheoretiker*innen in den sogenannten “Mainstream-Medien” Widersprüche, dienen diese nichtsdestotrotz als Beweis für die Richtigkeit der eigenen Annahmen. Denn der Bestätigungsfehler führt dazu, dass man die widersprüchlichen Informationen so uminterpretiert, dass sie in das eigene Weltbild passen. Die eigene Meinung wird also durch die Widersprüche nicht hinterfragt, sondern erneut bestätigt.

Knapp = wertvoll?

Viele Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen wanderten von anderen sozialen Medien wie Facebook oder Instagram zu Telegram über, da sie dort ihre Meinungen “unzensiert” kundtun können (Ebitsch et al., 2020). Doch was bewirkt es, wenn diese Personen in ihrem Alltag ständig vermeintlich „zensierte“ Informationen erhalten? Hier kann das Prinzip der Knappheit eine Rolle spielen: Möglichkeiten, welche uns weniger gut erreichbar scheinen, werden automatisch als wertvoller wahrgenommen (Cialdini, 2009). Schon bei kleinen Kindern kann man beobachten, dass sie gerade die verbotenen Spielsachen am liebsten mögen. Nicht allein das weggenommene Spielzeugauto, sondern auch vorenthaltene Informationen werden als besonders wertvoll wahrgenommen. Haben wir das Gefühl, dass diese knapp oder sogar zensiert sind, steigt unser Interesse daran. Aber nicht nur das: Wir messen ihnen mehr Bedeutung bei und halten sie sogar für glaubwürdiger (Cialdini, 2009).

Ein Experiment, welches dieses Phänomen sehr gut verdeutlicht, kommt aus dem Marketingbereich (Knishinsky, 1982). Hierbei versuchte der Wissenschaftler Supermarktbetreibende auf drei verschiedene Arten für den Kauf von Rindfleisch zu überzeugen. Neben einem normalen Verkaufsgespräch gab es auch eine Version, bei dem erwähnt wurde, dass das Fleisch insgesamt knapp sei. Bei der dritten Version erhielten die Supermarktleitenden noch den Zusatzhinweis, dass die Information zur Knappheit exklusiv nur für sie ist. Das Ergebnis zeigt, dass die Zusatzinformation „Fleisch ist knapp“ zu einer Verdopplung der Kaufmenge führte. Die Kombination aus Knappheit und Exklusivität resultierte in einer Versechsfachung der Kaufmenge im Vergleich zum normalen Kaufgespräch.

Das Prinzip der Knappheit kann man nun auf zwei Arten auf das “Telegram-Phänomen“ übertragen. Einerseits haben die Kanalabonnent*innen scheinbar das Gefühl, dass ihnen die “wahren“ Informationen von den klassischen Medien vorenthalten werden (Ebitsch et al, 2021). Somit haben sie den Eindruck, auf Telegram knappe und damit besonders wertvolle Informationen zu erhalten (Cialdini, 2009; Knishinsky, 1982). Die direkte Adressierung der Anhänger*innen durch die Hosts unter Ausschluss der restlichen Öffentlichkeit könnte des Weiteren ein Gefühl von Exklusivität hervorrufen. Denn viele gehen davon aus, dass es nur in den entsprechenden Telegram-Kanälen möglich ist, an “wahre” Information zu gelangen. Diese Exklusivität könnte ebenfalls dazu führen, dass sie die dort geteilten Schlagzeilen und Artikel für glaubwürdiger halten.

Eine Information - zwei Wege

Doch was passiert mit den gesendeten Nachrichten, Artikeln und Videos, wenn sie auf die Empfänger*innen treffen? Um die empfangende Person zu überzeugen, kann die Information über zwei verschiedene Wege in ihrem Gehirn verarbeitet werden: Über die zentrale Route oder eine Abkürzung (Petty & Cacioppo, 1986). Bei einer Verarbeitung auf der zentralen Route findet eine intensive Auseinandersetzung mit den dargebotenen Argumenten und Inhalten statt. Nur wenn diese die Qualitätsprüfung überstehen, lässt sich die verarbeitende Person überzeugen und ändert ihre Einstellung. Die zweite Route hingegen ist mit einer Abkürzung im Gehirn vergleichbar. Wie beim Wandern auch, spare ich mir dadurch Kraft und Zeit. Bei aller Eile ist es jedoch möglich, dass ich mich nicht ganz so gut umschaue und die Hauptsehenswürdigkeiten verpasse.

Ähnlich kann es bei der Verarbeitung von Informationen passieren, denn hier muss ich mir die Frage stellen: Ist die Nachrichtenquelle glaubwürdig? Um dies zu beantworten, kann ich die Abkürzung über den Ruf der Quelle nehmen (Metzger, Flanagin & Medders, 2010). Hat die verlinkte Website - meiner Meinung nach - einen guten Ruf, vertraue ich auch auf die Richtigkeit der spezifischen Information, ohne mich wirklich damit auseinandergesetzt zu haben. Eine weitere Abkürzung kann ich nehmen, indem ich auf die Einschätzung von Freund*innen oder der Gruppe vertraue, ohne selbst weiter nachzudenken. Sehe ich die gleiche Information in verschiedenen Quellen, kann ich meine Entscheidungsfindung ebenfalls abkürzen und schlussfolgern: Wenn mehrere Personen diese Information so teilen, wird es wohl stimmen. Weitere oberflächliche Kriterien, welche Entscheidungen auf der schnellen Route beeinflussen können, sind die reine Anzahl der Argumente, der Expert*innenstatus der verfassenden Person oder auch die eigene Stimmung (Petty & Cacioppo, 1986).

Auch wenn unklar ist, wie kritisch sich Abonnent*innen mit Telegram-Nachrichten auseinandersetzen, wenden Nutzer*innen von sozialen Medien für die Einschätzung der Glaubwürdigkeit eher die beschriebenen Abkürzungen an. Auch eine wissenschaftliche Untersuchung konnte bereits zeigen, dass im Social-Media-Kontext von dieser Verarbeitungsart auszugehen ist (Metzger et al., 2010). Dies liegt wohl vor allem an dem dargebotenen Informationsüberfluss. Da die Kanal-Betreiber*innen teilweise minütlich Beiträge teilen, bleibt den Abonnent*innen der Kanäle wohl auch gar nichts anderes übrig, als auf diese Weise Zeit und “Denk-Anstrengungen” einzusparen. Diese Orientierung an oberflächlichen statt qualitativen Aspekten einer Quelle könnte eine Erklärung sein, warum Verschwörungserzählungen ohne wissenschaftliche Grundlage in Telegram für glaubwürdig gehalten werden und überzeugen.

Telegram ­­­- die neue Tagesschau?

Zusammengefasst vereinen sich im Medium Telegram viele psychologische Phänomene, die dazu beitragen können, dass Informationen überzeugender wirken und sich Meinungen verfestigen. Natürlich ist die hier getätigte Sammlung noch nicht allumfassend; einen ersten Überblick über psychologische Prozesse in Telegram bietet sie jedoch allemal. Menschen, die aktuell der Existenz von Corona skeptisch gegenüberstehen, können sich bei Telegram gezielt solche Gruppen und Kanäle aussuchen, die zu ihrer bestehenden Meinung passen. An großen “digitalen Stammtischen" können sich Gleichgesinnte versammeln und gegenseitig in ihren Ansichten bestätigen. Wenn in Kanälen außerdem intensiv Nachrichten verschickt werden – bei Attila Hildmann sind es beispielsweise über 300 täglich – ist es für die Abonnent*innen schwierig, Quellen und dargebotene „Fakten“ intensiv zu hinterfragen. Stattdessen vertrauen sie auf die exklusiven Informationen des “Pseudo-Freundes”.

Doch werden nun zwangsläufig alle Menschen, die den Corona-Maßnahmen kritisch gegenüberstehen, auf Telegram zu radikalen Verschwörungsanhänger*innen?

Telegram mag für manche eine attraktive Informationsquelle und ein Sprungbrett in Richtung Radikalisierung sein (Ebitsch et al., 2020). Für die Mehrheit der Deutschen ist Telegram jedoch noch keine Alternative zu der Tagesschau der öffentlich-rechtlichen Medien. Mit dem gesteigerten Nachrichtenbedürfnis im Corona-Jahr 2020 schalteten durchschnittlich 11,8 Millionen Zuschauer*innen täglich die Tagesschau ein, mehr Menschen als je zuvor.

Letztendlich trägt jede*r selbst die Verantwortung, die eigenen Informationsquellen gut zu prüfen. Denn auch bei Nachrichten handelt es sich nur um eine Art Produkt, vor dessen Kauf man sich fragen sollte: Gibt es auch Alternativen? Sind die Freund*innen wirklich Expert*innen auf dem Gebiet? Will man wirklich sichergehen, dass man seriöse Informationen erhält, lohnt sich dann vielleicht doch der lange, anstrengende Weg des Nachdenkens.

Mike Philipp via Unsplash https://unsplash.com/photos/2dMORB2R_-s


Literatur:

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